Digitale Welten

Wir können nicht sagen, wir haben es nicht gewusst.

8. Januar 2014. Heinz Nixdorf MuseumsForum (HNF) Paderborn. 19 Uhr. Pünktlich beginnt die Veranstaltung. Daniel Domscheit-Berg spricht über seine Zeit bei WikiLeaks und die heutigen Gefahren für Freiheit und Demokratie. Genau eine Stunde wird er referieren. Eine Stunde werde ich einem Menschen zuhören dürfen, der Dinge hinterfragt, der verstehen will, der verändern will, der eine Haltung einnehmen kann. Ein Mensch, der für seine Überzeugungen kämpft, der nicht nur dafür auf die Straße geht, sondern sogar sein Leben dafür auf’s Spiel setzt. Ein mutiger Mensch. Eine wertvolle Stunde.

Daniel Domscheit-Berg ist Gemüsebauer. Immer, wenn er mit dem Tempo der Welt nicht Schritt halten kann, geht er hinaus in seinen Garten. Er pflanzt, er hegt und er erntet. Entschleunigung nennt er das. Entschleunigung, die er braucht. Dann schaut er seine Zuhörer an. An mutlosen Tagen will er sich an diesen Abend im HNF erinnern, will sich an 600 Menschen erinnern, die ihm zeigen, dass die Lethargie in der Debatte um Freiheit und Demokratie wohl doch nicht so groß ist, wie angenommen, dass es Menschen gibt, die sich sehr wohl interessieren. Für einen kurzen Moment ist es, als könne man die Last, die auf seinen Schultern liegt, spüren. Nein, er wird nicht sentimental werden. Er wird mit gleichbleibender Stimme eine Stunde lang reden, sehr überlegt, immer sehr rational. Manchmal wird man die Vorsicht spüren mit der er nach Worten sucht, als müsse er unbedingt die richtigen treffen, weil jedes falsche Wort ein falsches Wort zu viel sein könnte.

Sein Werdegang ist der eines Fragenstellers. Die Sesamstraße gibt ihm in frühen kindlichen Jahren die Weisheit mit auf den Weg: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Seine Eltern unterstützen seine Neugierde. Er fragt und lernt zu verstehen. Er liest Dokus und findet Antworten. Politisiert wird er über den 1. Golfkrieg und über Müllermilch. Mit dem 1. Golfkrieg tauchen plötzlich die Taschenradios in den Schulen auf. Selbst im Unterricht waren sie angeschaltet. Jeder will informiert sein. Der Krieg löst eine seltsame Welle der Euphorie aus. Alle schwimmen mit auf dieser Welle, jubeln, wenn die Bomben ihre Ziele treffen. Was passiert hier? Wer hinterfragt? Wo ist die Grundlage, um sich wirklich ein Urteil bilden zu können? Daniel Berg ist ein leidenschaftlicher Milchtrinker. Heute wie damals. Als es damals hieß, Müller Milch unterstütze die Republikaner, wird sein Vertrauen abermals erschüttert. Wie schaffe ich mir wirklich eine transparente Grundlage für meine Meinung? Warum bin ich immer abhängig von dem, was andere mir zutragen? Wie schaffe ich es, weniger invasiv in das Leben anderer zu sein? Wieso? Weshalb? Warum?

Eine Gesellschaft im Umbruch. Der Informatiker stellt weiter Fragen: Wie können wir unsere Gesellschaft gestalten? Welche Werkzeuge habe ich, um die Welt zu verbessern? Was kann ich tun? Im Sommer 2007 ist er unter dem Pseudonym Daniel Schmitt einer im WikiLeaks-Team. Er sei nicht Mitbegründer, betont er. Die Idee hinter WikiLeaks sei eigentlich banal. Vieles passiere heute hinter verschlossenen Türen, in geschlossenen Systemen. Es gibt Menschen, die in diesen geschlossenen Systemen arbeiten, die aber irgendwann vielleicht feststellen, dass sich etwas Ungesundes entwickle. Etwas, das diese Menschen gerne öffentlich machen wollen. Für diese sogenannten Whistleblower sei WikiLeaks eine Plattform. Potenzial gäbe es viel. Doch anfangs habe niemand an das Projekt geglaubt. Es gäbe doch die Medien, hieße es. Als dann irgendwann die Medienkrise offenkundig wurde, hieß es, mit WikiLeaks habe der klassische Journalismus sein Ende gefunden. Daniel Domscheit-Berg schüttelt mit dem Kopf und erwähnt kurz den Film “Inside WikiLeaks”. Wenig, fast nichts habe der noch mit der Realität gemeinsam und niemals habe er Warcraft gespielt.

Viele wichtige Lektionen habe die Zusammenarbeit an einem Projekt wie WikiLeaks ihn gelehrt. Die wichtigste jedoch: Wie viel Macht uns das Internet gibt. WikiLeaks habe sich mit so vielen Organisationen angelegt und so vieles bewirkt. Wir Menschen können die Welt verändern. Wir müssen nur aktiv werden. Dank WikiLeaks habe man einen Einblick in die Ausmaße der Korruption dieser Welt erhalten. Dann berichtet Domscheidt-Berg über Enthüllungen von WikiLeaks, über Island, über die Julius Bear Bank, über das Video Collateral Murder. Die Systeme korrumpieren, weil sie eben geheime Systeme sind. Solch geschlossene Systeme haben einen eigenen Referenzrahmen, ein eigenes Wertesystem. Moralverschiebungen innerhalb eines solchen Systems werden nicht erkannt. Es fehlt das Feedback von außen, es fehlt jede Rückkopplung, um das System integer und gesund zu halten. So sei es zu erklären, dass die Piloten in dem Video “Collateral Murder” scheinbar nicht begreifen, was sie da tun, dass sie Zivilisten abschlachten und so tun, als sei es ein Computerspiel. Der Referenzrahmen des amerikanischen Militärs sei nicht kompatibel mit dem Rest der Welt. Transparenz sei unabdingbar um diese korrupten Systeme zu reparieren. Transparenz erlaube es, Standards zu schaffen, sei Grundlage für Informiertheit und dafür, dass wir überhaupt Entscheidungen treffen können. Transparenz sei wichtige und grundlegende Voraussetzung beim Übertritt in die digitale Gesellschaft.

Technologiegeschichtlich befänden wir uns in der 3. Industriellen Revolution. Wie bei jeder vorangegangenen Industriellen Revolution sei auch jetzt die Reduktion von Hierarchien wesentliches Merkmal. Die Möglichkeiten, die Welt neu zu gestalten, würden mit dem Internet grundlegend neuverteilt. Das Internet als flaches, horizontales Werkzeug mache uns zu Gleichen unter Gleichen. Ein gleichberechtigter Dialog auf Augenhöhe sei das, was das Internet ausmache. Und ein jeder sei verteilungsberechtigt. So können Lösungen für die Probleme dieser Welt gemeinsam gefunden werden.

Das Internet als inklusives Medium (Jeder kann mitmachen!) stünde einer Welt gegenüber, die immer noch exklusiv ist und auf Machterhalt und Ausbeutung aus sei. Die NSA sei nichts anderes, als ein Mittel, die Vormachtstellung der USA zu erhalten. Ein geschlossenes System, eine Gruppe, die sich abgrenzt. Dialog und Privatheit werden bekämpft. Aber es könne nicht sein, dass wir dem Staat dienen, es muss umgekehrt sein. Diese Machtverhältnisse müssen korrigiert werden. Ein jeder von uns sei Souverän. Doch wie sind diese Machtverhältnisse zu ändern? Das sei die große Frage unserer Zeit. Und mit “Ich hab ja nichts zu verbergen” ganz bestimmt nicht zu beantworten. Die Möglichkeit überhaupt Individuum sein zu können, darf nicht aufgegeben werden.

Geehrt fühlte sich Daniel Domscheit-Berg, dass er in einem Hause wie dem HNF (dem weltweit größten Computermuseum) zu Gast sein dürfe. Und natürlich habe er sich die Ausstellung angeschaut. Das wichtigste Exponat sei die DEHOMAG-Maschine. Eine Maschine zur Datenverarbeitung, die während des 3. Reiches eingesetzt wurde. Zwei Volkszählungen habe es damals gegeben. Alles wurde erfasst und alle Menschen hätten ehrlich und eifrig Antworten gegeben. Keiner hätte eine Idee gehabt, was passieren könnte, dass Menschen anhand dieser Daten katalogisiert werden, dass Listen entstehen, die darüber entscheiden, wer leben darf und wer nicht.

Moral und Demokratie können sich verschieben. Wir dürfen nicht so tun, als ginge uns das nichts an. Moral ist kein fixer Begriff. Wir müssen uns jeden Tag rückversichern, dass wir gut handeln. Die Verantwortung dürfen wir nicht abgeben. Wir haben alle viel mehr Macht, als wir glauben. Und wir haben die Pflicht, eine Welt voller Chancen und Potenziale für unsere Kinder zu erstellen.

Wir können unseren Kindern später nicht sagen, wir haben es nicht gewusst!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*